die engen barrieren der sprache aufbrechen

In der Spielzeit 23_24 widmet sich das tfn gleich in drei Sparten dem höchst interessanten Casus woyzeck. Im Schauspiel erleben Sie Georg Büchners Klassiker neu interpretiert von Hausregisseurin Ayla Yeginer, Yamila Khodr und das 12H Dance Collective nähern sich dem Stoff mit einer eigens für das tfn entwickelten Choreografie – und zum ersten Mal ist auch die musical_company Teil der Trilogie. Mit dem Musical woyzeck (Komposition Manuel de Rien, Textbuch Oliver Graf) erleben Sie eine Uraufführung, welche auf den Texten Büchners basiert und um vertonte Gedichte von Georg Heym und Georg Trakl erweitert wurde. Dramaturgin Julia Hoppe hat mit Manuel de Rien, Mitglied der Punkband Narcolaptic und des Post-Rock-Duos Silvertongues, über die Komposition von woyzeck gesprochen.

↗ Wo ist woyzeck stilistisch einzuordnen?

Ausgangspunkt für die musikalische Komponente des Musicals ist klar der Punk-Rock. Da es sich bei woyzeck allerdings um ein dicht verzweigtes Geflecht aus unterschiedlichsten Emotionen handelt, wäre es zu simpel, einfach einen Abend lang die Punk-Klatsche zu verteilen. Somit öffnet sich das Musical in seinem Verlauf immer wieder in Richtung anderer Stilistiken; Elemente aus dem Psychedelic-Rock spielen eine wiederkehrende Rolle innerhalb von Songstrukturen, Instrumentierung oder im generellen Klanggewand, ebenso hatten Post- und Noise-Rock einen großen Einfluss auf die Gitarrenarbeit und erwiesen sich als hilfreiche Stilmittel, um die moralischen Abgründe dieses Dramas besser abzubilden. Um es einfach auszudrücken: woyzeck ist ein Punk-Rock-Musical, welches sich stetig zu den Seiten umschaut, die emotionale Kellerluke offenstehen hat und doch immer wieder schelmisch grinsend mit poppigen Melodien um die Ecke kommt.

woyzeck ist dein erstes selbstkomponiertes Musical. Ist die Vorgehensweise eine andere, als wenn man Songs für eine Band schreibt?

Ja und nein. Ein jeder Song lässt sich nur auf seine eigene Art und Weise schreiben; jedenfalls ist das bei mir der Fall. Manche Songs nehmen schon recht konkrete Züge an, bevor ich überhaupt ein Instrument in die Hand nehme. Bei anderen spiele ich stundenlang auf der Gitarre oder einem anderen Instrument herum, nehme haufenweise Mist auf, bis plötzlich diese eine inspirierte Komponente entsteht, welche scheinbar den Bauplan für den gesamten Song in sich trägt. Dennoch ist es ein ganz anderes paar Schuhe, ein Musical zu schreiben. Zum einen gibt es im Fall von woyzeck einen bestehenden Inhalt. Wenn ich ein Stück für eine Band schreibe, kann ich mich gelegentlich einfach treiben lassen und schauen, wohin der Schreibprozess mich führt. Oftmals lassen erste Entwürfe erst die Gefühle entstehen, die mir selbst die Richtung aufschließen, in welche ich textlich arbeiten möchte. Bei woyzeck war das natürlich anders, hier war das Ziel eines Songs schon zu Anfang klar und das ganze Stück musste eher wie ein Konzeptalbum gedacht werden. Zum anderen unterscheidet sich die Arbeit an einem Musical durch den schieren Umfang der Produktion. In einer Band singen meistens ein bis zwei Personen, im Falle unseres woyzecks singen bis zu neun – oftmals gleichzeitig, mit- und gegeneinander. Dazu kommt, dass eine Band mitunter doch recht eindeutig einer Stilistik zugeordnet werden kann. Bei einer sich fortlaufend entwickelnden Geschichte wie woyzeck muss auch die Musik dieser Entwicklung folgen, wenn sie den Anspruch erfüllen möchte, diese Geschichte zu erzählen. Die Songs müssen in der vorgeplanten Reihenfolge funktionieren, die Dynamik des Dramas mitgehen und doch dem Ganzen etwas Eigenes hinzufügen; viele Parameter also, denen plötzlich gesteigertes Gewicht zukommt.

↗ Wie übersetzt man eine bereits bestehende Geschichte in Musik?

Das ist das Spannendste! Man kann nicht einfach in die eigene Comfort-Zone abtauchen und drauflos schreiben, alles beginnt mit der Textinterpretation. Nachdem ich das Drama mehrmals gelesen und für mich auf das Wesentliche herunter gebrochen hatte, begann ich recht analytisch. Ich beschloss, mich auf die emotionale Ebene zu fokussieren und fing an, eine Art Steckbrief-Sammlung der einzelnen Charaktere anzulegen. Welche Emotionen beherrschen den Charakter, welche Weltsicht steht dahinter? Und vor allem: Welche musikalischen Stilmittel können mir dazu dienen, diese Persönlichkeiten auch instrumental widerzuspiegeln? Besonders in der Figur des Woyzeck liegt hier der Reiz in seiner Entwicklung im Verlauf des Stücks, in seinem stetigen geistigen Verfall und seiner wachsenden Irrationalität. Letztendlich ist es grade die Fülle an unterschiedlichen Charakteren und ihre Fähigkeit, jeweils als Spiegel verschiedener Teile der Gesellschaft zu agieren, die dieses Drama auszeichnet und nahezu 200 Jahre später ungemindert aktuell macht. Und ich denke, genau dieser Ansatz – diese Charaktere musikalisch einzufangen – hat zu der stilistischen Bandbreite des Musicals geführt.

↗ Auch einige der Songtexte stammen aus deiner Feder. Sprachlich erleben wir an dem Abend eine Mischung aus Englisch und Deutsch. Wie kam es dazu?

Die Mischung aus deutscher und englischer Sprache zollt gewissermaßen den Grundparametern unseres kreativen Prozesses Tribut. Zum einen wollten wir nahe an der deutschen Originalvorlage bleiben, um einen authentischen Woyzeck zu erschaffen, zum anderen merkten Oliver Graf und ich schnell, dass wir die Songs beide überwiegend in englischer Sprache fühlen. Da es sich bei Büchners Dramenfragment durchaus um Themen handelt, welche mit ihrer existenziellen Tragweite und gefühlsbetonten Ausdrucksform die Grenzen des Sprachgebrauchs überschreiten, wurde uns schnell klar, dass wir mit diesem Stilmittel der Zweisprachigkeit ein Werkzeug an die Hand bekommen hatten, welches uns ermöglichte, sowohl die moralische Ambivalenz der Charaktere als auch die gesellschaftliche Außenseiterstellung Woyzecks zu unterstreichen; das ganze Werk ist für mich eine Parabel auf die moralischen Verflechtungen innerhalb unserer Gesellschaften, welche besonders in der heutigen Zeit immer weitreichender gedacht werden müssen. Was wäre also besser geeignet, die enorme Tragweite des Stückes auszudrücken, als die engen Barrieren der Sprache aufzubrechen?